Theoretische Grundlagen zum Shotokan Karate-Do

Psychologische Situationen

Am Beginn seines Weges lernt der Karateka viele seiner körperlichen Grenzen kennen. Allerdings sind diese nicht die einzigen Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Auf der psychischen Ebene gibt es mindestens genau so große, wenn nicht sogar größere Hindernisse.


Ängste - allgemein

Höhenangst oder Flugangst, Angst vor dem Zahnarzt oder vor der Dunkelheit - Angst hat zunächst immer die Funktion, dem Menschen mitzuteilen: hier droht Gefahr. Das vegetative Nervensystem reagiert ganz von selbst auf bestimmte Reize mit einer höheren Aktivität des Sympathikus - des Nervenstranges, der für die Anregung des Herzkreislaufsystems zuständig ist. Der Sympathikus sorgt dafür, dass Spannung in den Körper kommt. Er versetzt den Menschen in den Alarmzustand, steigert die Aufmerksamkeit und macht die Systeme dazu bereit, die Flucht zu ergreifen - oder Situationen zu vermeiden, die gefährlich werden könnten.

Darum ist Angst lebensnotwendig und im Grunde etwas Positives: eine biologische Reaktion, die dem Menschen schon in grauer Vorzeit geholfen hat, auf Gefahren zu reagieren oder sie zu vermeiden. Instinktiv weiß der Mensch, wo er sicher ist und was gut für ihn ist. Auf Situationen, die seiner natürlichen Umgebung nicht angepasst sind, reagiert er mit erhöhter Anspannung - oder eben Angst. Der Schwindel, der manche Menschen anfällt, wenn sie in großer Höhe stehen, hat die Funktion, ihm mitzuteilen, dass dies eine unsichere Umgebung ist. Die Angst vor der Dunkelheit hat ihre Ursache darin, dass der Mensch am Tag aktiv ist und seine Sinne in der Nacht nicht so gut funktionieren - dann sind ihm seine Gegner überlegen, die sich besser orientieren können. [...]

Auch die Drohgebärden wilder Tiere zu verstehen, war für die Urmenschen überlebensnotwendig. Laute Geräusche oder plötzliche Bewegungen konnten immer Anzeichen einer Gefahr sein. Es hieß also, sich rechtzeitig bereitzumachen, im Notfall zu entkommen. Ist die Bedrohung vorüber, verschwindet die Angst auch wieder - sie hat ihre Funktion erfüllt. Ohne Angst könnten wir nicht überleben. Sie erst ermöglicht es uns, die notwendige Vorsicht aufzubringen, die wir zum Leben brauchen. [...]



Prüfungen & Prüfungsängste

Entscheidet man sich den Weg einer Kampfkunst zu beschreiten, so kommt irgendwann der Tag, an dem man sein Erlerntes einer Prüfung unterzieht, um die nächste Stufe zu erreichen. Dabei gibt es in jeder Kampfkunst unterschiedliche Wege, die beschritten werden, um einem Schüler zu zeigen, daß er einen weiteren Abschnitt in dieser Kunst vollendet hat. Im Shotokan Karate-Do werden diese Abschnitte durch Gürtelfarben symbolisiert. In der Regel läßt sich der Karateka zu einem bestimmten Prüfungstermin von einem höheren Dan-Träger prüfen, indem er ein vorgegebenes Programm zeigt. Abhängig von der gezeigten Leistung wird ihm so der nächst höhere Gürtel verliehen oder auch nicht, was unter Umständen einen seelischen "Knacks" verursacht. D.h. die Angst bei einer folgenden Prüfung ist noch höher, als sie sowieso schon war, oder die entsprechende Person verliert den Mut und beendet sogar seinen Weg in dieser Kampfkunst.

Hier stellt sich die Frage, ob eine Prüfung wirklich ein "Muß" darstellt. Denn zum einen ist der Karateka gezwungen eine Prüfung zu absolvieren, um eine höhere (Gürtel-)Stufe zu erreichen, zum anderen sind aber Gürtelprüfungen eine rein freiwillige Sache. Welche Möglichkeiten gibt es also, den Weg dennoch erfolgreich zu gehen? Betrachtet man zunächst eine Prüfungsvorbereitung während eines Trainings, so stellt man fest, das vorrangig versucht wird die körperlichen Fähigkeiten des Einzelnen zu verbessern. Relativ selten wird die seelische Komponente betrachtet, die für die meisten Karateka aber das größere zu überwindende Hindernis darstellt. Fast jeder steht vor und während der Prüfung unter sehr hohem psychischen Druck, der sogar in einigen Fällen dazu führt, das die betreffende Person Beruhigungsmittel einnimmt um die entstehende "Last" bewältigen zu können. Oft wird auch davon gesprochen, das ein Karateka nur deshalb seine Prüfung nicht bestanden hat, weil seine Aufregung während dieser einfach zu groß war. Sind also Prüfungen unzumutbare, nervliche Belastungen, die besser vermieden werden sollten? Dieses muß von mehreren Seiten betrachtet werden.

Der Karateka steht während des Trainings recht häufig unter stark nervlichen Anspannungen. Diese entstehen besonders in Kumite-Situationen, in denen es um eine Selbstverteidigungssituation geht oder in der eine freie Form des Kämpfens trainiert werden soll. Reaktionen auf spezielle Angriffe müssen auf Anhieb funktionieren, ohne dabei allzu große Fehler zu machen, da diese die eigene Gesundheit und die Gesundheit des Partners gefährden könnten. Hieraus ergibt sich, das auch die nervliche Belastung ein wesentliches (Trainings-)Merkmal im Karate-Do zu sein scheint.

Als einfaches Beispiel dient das Kihon-Ippon-Kumite, bei dem der Verteidiger sich aus einer recht ungünstigen Kampfhaltung, dem Shizentai, verteidigen muß. Bei Anfängern wie auch bei Fortgeschrittenen sieht man häufig das frühzeitige Nach-Hinten-Ausweichen, das Schwanken des Oberkörpers in eine Richtung, als Reaktion auf den noch nicht erfolgten Angriff. Hier spielt uns die Vorstellung von dem, was noch nicht eingetroffen ist, aber in kürze geschehen wird, einen Streich. Ungenügende Erfahrung, Unsicherheiten und mangelnde Konzentration lassen sich jedoch nur durch ständiges Wiederholen der gleichen bzw. ähnlichen Situationen beherrschen.

Es gibt einige Möglichkeiten dem Prüfling (zumindest ein wenig) die Ängste zu nehmen, z.B. durch Nachstellen einer Prüfung während oder nach dem Training mit oder ohne Zuschauern. Eine sehr wichtige Rolle fällt damit auf den Trainer. Er ist im Grunde genommen immer ein Prüfer und sollte dem Schüler, der auch immer ein Prüfling ist, sagen und zeigen, wo seine Stärken und Schwächen liegen und an welchen Punkten er verstärkt arbeiten sollte. Von seinem Trainer, oder besser Sensei, bezieht der Karateka seine Kraft, die ihm helfen soll alle Situationen zu meistern.

Gürtelprüfungen gehören sicher nicht zu den wichtigsten Dingen im Karate-Do, aber sie sind mindestens ein Teil des Weges den der Karateka beschreitet. Deshalb sollte dem Prüfling auf jeden Fall durch entsprechendes Training geholfen werden auch solche Extreme zu bewältigen, um damit sein Selbstbewußtsein und -vertrauen zu stärken.



Drei Samurai Grundsätze

Die Samurai - die heroischen Krieger Japans. Sie lebten nach dem Kodex des Bushido, der auf Gerechtigkeit, Ehre und Treue basierte. Erst in der späten Heian-Zeit (Mitte des 12.Jahrhunderts) "entstand" der wahre Samurai und regierte danach über ca. 800 Jahre in Japan. Die Samurai kannten viele Grundsätze und Regeln, nach denen sie ihr Leben ausrichteten. Auf einen bestimmten Grundsatz (bzw. drei zusammengehörige) soll hier kurz eingegangen werden, da dieser interessante Aspekte auch auf unsere heutige Zeit wirft. Dabei reicht das Spektrum von einfachen Betrachtungen über das Karate-Training bis hin zu komplexen Lebenssituationen.

3 Samurai Grundsätze

Kikioji - Angst vor dem Ruf des Gegners

Mikuzure - Angst vor dem Aussehen des Gegners

Futanren - Unzulängliches Training

Einer dieser drei Punkte reichte aus, um einen Kampf mit einem Gegner zu verlieren. Interessanterweise steht der Punkt "Unzulängliches Training" an letzter Stelle. Das heißt, das der Geist in einer Kampfsituation die wichtigere Rolle einnimmt als der Körper. Warum ist das so? Ängste beeinflussen und blockieren unseren Körper. Was passiert z.B. bei einer Person die Angst vor einem Tier oder Insekt hat? Das plötzliche Erscheinen dieses "erschreckenden" Wesens lässt die Person erstarren, zurückzucken oder vielleicht sogar einen Schrei ausstoßen. All das sind Reaktionen, die unbewusst geschehen, aber eine gesteuerte "richtige" Reaktion (wie immer auch diese in diesem Moment aussehen mag) verhindert oder zumindest verzögert.

Betrachtet man zunächst die Grundsätze in Verbindung mit dem Karatetraining, so lässt sich ihre simple Aussagekraft sehr schnell verstehen. Als Beispiel soll ein einfacher Lehrgang dienen, bei dem das Kumite-Training im Vordergrund steht. Kurz vor dem Beginn des Trainings sieht man einen riesigen, muskulösen Karateka mit grimmiger Miene durch die Menge gehen. Und plötzlich wird erzählt, dass dieser wohl beim letzten Lehrgang einen anderen bei Kumitetraining verletzt hätte, da er wohl ziemlich rücksichtslos mit seinen Partnern umgehen würde. Schließlich passiert dann das, was man (schon im Unterbewusstsein) nicht gehofft hat, nämlich das dieser Karateka nach einem Partnerwechsel plötzlich vor einem steht. Jetzt reicht nur noch die Tatsache aus, das man selber in der letzten Zeit nur unregelmäßig trainiert hat und schon treffen gleich alle drei Grundsätze zu, um den Kampf zu verlieren. Ein Kampf bei einem Lehrgang bedeutet natürlich nicht dasselbe, wie um sein Leben kämpfen zu müssen, aber dennoch ist man hier in einer Situation in der man sich verteidigen und auch angreifen muss. Der Körper verkrampft sich, weil das Aussehen des Gegenübers einen unsicher macht und die Gedanken kreisen ständig um den Punkt nicht verletzt zu werden, wie jener Karateka beim letzten Lehrgang. Der Angreifer gegenüber hat nun genau die Voraussetzung geschaffen, die er erreichen wollte. Er hat es nun leichter die Kampfsituation für sich zu entscheiden und kann auch dadurch diese Vorteile weiter auszubauen. Wie kommt man nun aus diesem selbst geschaffenen Gefängnis wieder heraus?

Dieses ist sicherlich von Person zu Person unterschiedlich, aber Karate-Do gibt uns hier die Hilfen die wir benötigen. Der erste Schritt ist Mushin, der leere Geist bzw. das "nicht denken". Ist der Geist leer, dann gibt es nichts was einen von der aktuellen Situation ablenken kann. Der Geist kann sich unbeirrt auf den Kampf einstellen. Es entsteht Zanshin. Als nächstes muss der Gegner ein Objekt werden, d.h. vor einem steht nicht mehr der Zwei-Meter-Riese mit dem grimmigen Gesicht, sondern ein "gesichtsloses" Wesen oder Objekt, das eine bestimmte Aktion zeigt, auf die man angemessen reagieren muss. Als letztes bleibt natürlich das regelmäßige Training, in dem man immer wieder auf ähnlichen Situationen trifft, und damit mehr Selbstvertrauen entwickeln kann, um solche Situationen einfacher zu meistern.

Bleibt noch ein Einblick in das alltägliche Leben. Auch hier gibt es genügend Situationen um einen "Kampf" zu verlieren, weil mindestens einer der drei Grundsätze zutrifft. Als Beispiel kann man ein Vorstellungsgespräch in einer Firma heranziehen. Bevor man die Firma in der man sich vorstellen möchte betritt, "trifft" man auf Kikioji. Also der "Angst vor dem Ruf des Gegners", wobei der Gegner hier der Chef der Firma ist. Das Oberhaupt, der Boss, derjenige der über die Richtung des eigenen Lebens in kürze entscheiden wird. Durch ein einfaches "Ja" oder "Nein" kann er entscheiden, ob man einige Jahre, Jahrzehnte oder vielleicht für die Zeit des ganzen Berufslebens in dieser Firma bleibt, oder sich nach was anderem umsehen muss und unter Umständen sogar die Stadt und damit den Bekanntenkreis wechseln muss. Der Geist kreist also um den "allmächtigen Entscheider", der in kürze vor einem sitzen wird. Dann ist es schließlich soweit (Mikuzure). In einem dicken Sessel sitzend und geschützt durch einen mächtigen Schreibtisch mustert der Firmenchef einen von oben bis unten mit einem durchdringenden Blick und einer harten Sprache, um zu sehen wie selbstbewusst der Gegenüber ist. Ist es auch das erste Mal, das man bei einem Vorstellungsgespräch ist und man hat z.B. vorher eine solche Situation nicht mit einem Übungspartner geübt, so fehlt hier auch die Erfahrung lockerer mit dieser Situation umgehen zu können. Es fehlt sozusagen das regelmäßige Training (Futanren).

Dies ist nur ein Beispiel von vielen, die man im alltäglichen Leben finden kann. Karate-Do und das Dojo stellen sozusagen eine kleine abgeschlossene Welt für sich selbst dar, in der wir üben können; in der wir verstehen können, was uns blockiert, uns Schwierigkeiten bereitet und was wir unternehmen können um ähnliche Situation im alltäglichen Leben zu meistern.


nach oben Hauptseite